DIE ZEIT - Feuilleton - 17.03.2011
Kritische Betrachtung seiner Thesen
Vorbemerkung
Die Befürworter eines "Optimierten Fährbetriebs" wollen die Infrastruktur im Oberen Mittelrheintal sofort und für alle Talbewohner verbessern. Dazu eignet sich eine dezentrale Lösung mit 5 Fährstandorten viel besser als eine zentrale Lösung mit nur einer Brücke. Zu diesem Ergebnis würde man bei objektiver Betrachtung auch außerhalb einer Welterbestätte kommen. Gefordert wird deshalb die Einführung eines 24h Fährbetriebs, der von der Landesregierung finanziert wird. Denn Infrastruktur ist Ländersachen!
Kein Schandfleck
Aber lebensnotwendig: Rheinland-Pfalz wählt und stimmt über die Mittelrheinbrücke ab. Ein Plädoyer für ihren Bau - von Siegfried Englert
Ein Anschlag auf das Mittelrheintal ist sie, die geplante "autobahnähnliche" Brücke, die Tausende von Fahrzeuge durch die romantische Flusslandschaft unmittelbar an der Loreley schleusen soll. Nur diplomatische Finessen - ein fehlerhaftes und unvollständiges Gutachten der RWTH Aachen - hätten geholfen, die internationalen Hüter der Welterbestätte für das Projekt einzunehmen. So lauten die Vorwürfe des Nestors der deutschen Denkmalpflege, Michael Petzet, der immerhin 25 Jahre lang Chef der bayrischen Denkmalpflege war, ein Kunsthistoriker von internationalem Rang.
Richtig ist, dass eine Brücke zwischen Wellmich und Fellen in Planung ist, falsch ist, dass sie autobahnähnlich ausgebaut werden soll.
Hinter dieser Auseinandersetzung verbirgt sich in Wahrheit - die Ignoranz der Landesregierung gegenüber Alternativen Lösungen zur Verbesserung der Infrastruktur - ein sehr unterschiedliches Verständnis vom Schutz sich organisch entwickelnder Kulturlandschaften. Michael Petzet möchte am liebsten eine Glocke über das Mittelrheintal setzen, die jede Veränderung abwehrt. Schade eigentlich nur, dass er seinen Einfluss nicht schon vor 150 Jahren geltend machen konnte, dann wären dem Mittelrheintal die unseligen Bahnlinien erspart geblieben, die der Bevölkerung heute mehr Unbehagen bereiten als die Rheinbrücke in Planung, denn der Eisenbahnlärm ist die eigentliche Gefahr für die Lebensqualität in den Gemeinden zwischen Bingen und Koblenz.
Solche großflächigen Kulturlandschaften benötigen nach Auffassung der Landesregierung Rheinland-Pfalz ein modernes Schutz- aber auch Entwicklungskonzept, das eine Weiterentwicklung der Infrastruktur im Interesse der Bevölkerung des Tales mit einschließt. - Bereits im Managementplan 2002 wurde festgelegt, dass der Fährverkehr auf 24-Stunden ausgebaut bzw. dass es starke zeitliche Ausdehnung des Fährverkehrs im Rahmen der Regionalisierung des ÖPNV geben soll. Die Landesregierung ist bis heute untätig! - Allein schon deshalb, um die rasant gewachsene Abwanderung aus den Gemeinden zu stoppen und die unterschiedlichen Nutzungsinteressen von Bevölkerung einerseits und europäischer Eisenbahn andererseits unter einen Hut zu bringen. Der Schutz der Spuren der Vergangenheit muss verbunden werden mit Maßnahmen der Zukunftssicherung.
Der wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Wandel hinterlässt in Kulturlandschaften Spuren, denn Kulturlandschaften sind der physische Ausdruck der Gestaltungskraft und der Gestaltungsfähigkeit des Menschen. Im Oberen Mittelrheintal lassen sich die Ergebnisse der menschlichen Tätigkeiten auf Schritt und Tritt beobachten, eröffnen ständig neue Blicke in die Vergangenheit. Burgen und Städte legen Zeugnis von einer mittelalterlichen Metropolregion, früherer Wirtschafts- und Finanzkraft ab. Die Burgen, im 19. Jahrhundert teilweise romantisch überhöht und im Stil der Burgenromantik wiederaufgebaut, sind das sichtbar Ergebnis zahlreicher Machtkämpfe zwischen den Territorialherren und dienten der Sicherung der Zollerhebung. Veränderungen waren am Mittelrhein immer sehr schnell spürbar, wenn sich Formen der Kommunikation oder des Transports wandelten. So verlor der Rhein als Verkehrsachse zwischen Mittelmeerraum und Nordeuropa im 16. Jahrhundert durch die effizientere Seeschifffahrt und den Aufstieg neuer Handelsmächte an Bedeutung. Das "Leitkabel zwischen der Po-Ebene und den Ländern des Nordens" (Lucien Febvre) wurde nicht mehr im gleichen Umfang wie bisher für den Handel benötigt. Seine wirtschaftliche Bedeutung erlangte der Rhein erst durch die Schiffbarmachung und den Ausbau des Eisenbahnnetzes im 19. Jahrhundert zurück. Im Geist der Zeit wurde diese Anpassung an die modernen Verkehrsbedürfnisse von den preußischen Planern ohne Rücksicht auf Natur und Umwelt umgesetzt. Mittlerweile fließt der Verkehr am Tal vorbei. Der Rhein ist von der Lebensader des Tals zu einer Grenze zwischen dem linken und rechten Ufer geworden - weil die Landesregierung den Fährbetrieb bis heute nicht ausgebaut hat.
Nicht wenige gesellschaftliche und technische Veränderungen haben im Oberen Mittelrheintal Wunden hinterlassen. Der Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert schnitt die Orte in vielen Fällen vom Rhein ab und führte zu einer immer stärker anschwellenden Lärmbelastung. Auch der Massentourismus im 20. Jahrhundert brachte mehr als nur Gäste in das Tal. Unmittelbar an den Flussufern entstanden Campingplätze, über deren ästhetische Qualität man durchaus streiten kann. Wer in der Welterbestätte Oberes Mittelrheintal lebt oder die Kulturlandschaft konsumiert, sieht und spürt in dieser Landschaft gerade heute einen großen Veränderungsdruck. Neben all der Schönheit, die die Welterbestätte zu bieten hat, gibt es Beunruhigendes zu beobachten. In den vergangenen Jahren ist es zu einer deutlichen Abwanderung von Einwohnern im mittleren Abschnitt des Oberen Mittelrheintals und nahezu auf der gesamten rechten Rheinseite gekommen. Die Zahl der Arbeitsplätze hat dort kontinuierlich abgenommen. Häuserleerstände werden immer deutlicher sichtbar. Viele Fassaden stammen aus der Zeit des Wiederaufbaus oder wurden seinerzeit zum letzten Mal renoviert.
Ein Problem im Tal ist der immer weiter anschwellende Bahnlärm. Es ist zu befürchten, dass es durch den Gotthard-Basistunnel zu einer noch größeren Belastung kommen wird. Ein zentraler Grund ist aber auch die nur unzureichend überwindbare "Grenze Rhein". Über einen Streckenabschnitt von rund 84 Flusskilometern ist der Rhein nur mit erheblichen Einschränkungen zu überwinden - weil die Landesregierung seit 40 Jahren untätig ist. Diese für die Menschen im Mittelrheintal deutlich spürbare Grenze hat zu großen Unterschieden in der Entwicklung der rechten und linken Rheinseite geführt. Ein Konzept für die Bewahrung der rund 65 Kilometer langen Welterbestätte muss sich ernsthaft mit beiden Ursachenpaketen auseinandersetzen - und endlich den 24h Fährbetrieb bereit stellen. In diesem Konzept ist der Bau einer lokal verbindenden Brücke im mittleren Talabschnitt ein wichtiger Baustein. Für die meisten Menschen im Tal ist dieser Befund eindeutig. Anders als bei Stuttgart 21 steht die Bevölkerung hinter den Planungen der beiden Landkreise, die die Bauträger sein werden - Bauträger müsste das Land werden.
Für viele mit einem konservativen Verständnis von Kulturlandschaft ist das Projekt aber immer noch ein rotes Tuch - Das Projekt ist unsinnig! Zwar gibt es auf 86 km keine Brücke, dafür aber fünf Fährbetriebe, die ganzjährig im Einsatz sind. Klarer Vorteil der Fährbetriebe, deren Arbeitsplätze durch den Brückenbau in Frage gestellt werden, ist deren relativ gleichmäßige Verteilung auf die Gesamtstrecke. Die Brücke hingegen ist eine zentrale Querung, die zwangsläufig mehr Personenkilometer erfordert. [1] In der bundesweiten Diskussion um die Brücke spiegelt sich die sehr unterschiedliche Interessenlage der Nutzer und der Konsumenten von Kulturlandschaften wider. Für den reinen Statuserhalt plädieren die Konsumenten der Landschaft, etwa die Touristen. Sie besitzen einen Statusvorteil gegenüber den Einheimischen, die aus dem Mittelrheintal heraus leben: nämlich vergleichsweise viel Zeit, weshalb sie die genuine Zielgruppe für die Fährbetriebe sind.
Ganz anders geht es den Menschen, die im Tal leben, arbeiten und die Landschaft bewirtschaften. Wer ökonomisch auf die Nutzung der Landschaft angewiesen ist, ist auf Schnelligkeit und Verlässlichkeit angewiesen - Der optimierte Fährbetrieb ist laut Gutachten der RWTH Aachen schnell und zuverlässig! Die Herausforderung ist also schnell beschrieben: Die Interessen der Nutzer müssen sich bei Entwicklungsentscheidungen widerspiegeln, weil nur die Bewirtschaftung die Kulturlandschaften zu Kulturlandschaften macht.
Was in allen Kulturlandschaften ein Dilemma ist, nämlich die Entscheidung für eine angepasste Nutzung oder den reinen Erhalt der Landschaft, stellt sich in Welterbestätten mit besonderer Brisanz dar. Denn dort kommt es auf das Bewahren der Werte des Welterbes an. - Fähren sind Kulturgut der Verkehrslandschaft. Die Anerkennung des Oberen Mittelrheintals als Welterbestätte erfolgte wegen der Bedeutung des Verkehrskorridor ("... one of the most important transport routes ...") und der besonderen Wechselwirkung zwischen dem Naturraum und seiner Kultivierung durch den Menschen. Die Bedeutung als zentraler Ort der Rheinromantik stand bei der Anerkennung nicht im Vordergrund. Der Reichtum einer solchen Welterbestätte kann aber nur dann lebendig bewahrt werden, wenn es weiterhin vitale historische Orte gibt, der Steillagenweinbau und die traditionelle Niederwaldwirtschaft weiter betrieben werden können. Schutzkonzepte, die auf das Überstülpen einer "Käseglocke" setzen, müssen bei einer räumlichen so großen Welterbestätte scheitern. Dieser Gedanke mag für Menschen, die Denkmalschutz als den Schutz einzelner Monumente kennengelernt haben, irritierend sein. Zur Bewahrung von sich organisch weiterentwickelnden Kulturlandschaften ist er aber essentiell. - Der optimierte Fährbetrieb ist aus verkehrsplanerischer Sicht sinnvoller, weil er dezentral ist. Zu diesem Ergebnis würde man bei objektiver Betrachtung auch außerhalb einer Welterbestätte kommen.
Der wichtigste Faktor bei allen Entscheidungen des Landes ist die Wahrung der visuellen Integrität der Welterbestätte gewesen. Durch die Wahl eines Standortes weit weg vom berühmten Loreleyfelsen, der dadurch möglichen Erhaltung der historischen Blickbeziehungen und durch die hohe Qualität des Brückenentwurfs, der aus einem internationalen Architektenwettbewerb hervorgegangen ist, wurde dies gewährleistet. Denn wenn aus der Sicht der Kritiker eine Brücke an jeder Stelle des Weltkulturerbes ein Eingriff in die Integrität ist, dann ist der nun in Planung stehende Ort zwischen Wellmich und Fellen mit dem geringsten Flurschaden besetzt.
Der Rhein hat immer auch über die Rheinufer hinweg verbunden, in vielen historischen Perioden erstreckten sich die Herrschaftsbereiche über beide Rheinseiten hinweg. Realisiert wurden die Verbindungen immer entsprechend den zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten. Jetzt geht es darum, die Verbindung zeitgemäß wiederzubeleben. - Der optimierte Fährbetrieb ist zeitgemäß, weil klimafreundlich, ortsnah und wirtschaftlicher als eine Brücke! - Was nützt der Welt ein Weltkulturerbe Mittelrheintal, wenn die Menschen dort immer weniger Zukunftsperspektiven für sich und ihre Nachkommen sehen. So gesehen, wäre es mir fast lieber gewesen, das Mittelrheintal wäre vor 150 Jahren bereits zum Welterbe erklärt worden, dann gäbe es keine Campingplätze, keine Eisenbahn, die Loreley würde sich weiter um ihre blonden Haare bemühen, und Heinrich Heine hätte immer noch keine Antwort auf die Frage, warum er so traurig sei.
Der Autor des Artikels ist Staatssekretär im rheinland-pfälzischen Wirtschaftsministerium